Gastfreundschaft hatte und hat vor allem bei den Völkern des Ostens, aber auch unter uns Christen einen hohen Stellenwert. In den letzten Jahre spricht man eher von Willkommenskultur.
Seit den 1960-er Jahren wurden Menschen aus Italien, Griechenland und Portugal als Gastarbeiter nach Deutschland geholt. Trotz der Sprachbarriere waren sie hochwillkomen, brauchten wir doch ihre Arbeitskraft. Später kamen aus dem gleichen Grund Türken ins Land. Sie waren schon etwas weniger willkommen, brachten sie doch eine für uns fremdartige Religion mit. Plötzlich sah man verschleierte Frauen auf der Straße, man hörte von arrangierten Ehen und dass Mädchen in deren Religion nicht die gleichen Rechte haben wie Jungen. Das gefiel vielen nicht.
Noch später kamen in verschiedenen Wellen jugoslawische, libanesische, syrische, afghanische und viele andere Kriegsflüchtlinge zu uns. Aktuell sind Millionen von Ukrainern auf der Flucht. Anfangs hatte man Mitleid mit den verängstigten, vielfach traumatisierten Menschen, die alles verloren hatten. Doch schon bald merkte man, dass mit den Geflüchteten nicht nur „Engel“ gekommen waren, sondern manchmal auch Menschen, die nur unser gutes Sozialsystem zu ihrem Vorteil nutzen wollten oder kriminell waren.
Je mehr Fremde ins Land kamen, desto mehr schlug die Willkommenskultur, unsere Gastfreundschaft, ins Gegenteil um. Jetzt forderten viele, die Grenzen zu schließen. „Das Boot ist voll“ hieß es plötzlich oder „Wir können doch nicht die ganze Welt retten“ oder noch schlimmer: „Deutschland den Deutschen“! Aber geht das nicht zu weit? Gastfreundschaft ist doch eine Eigenschaft, die uneigennützig und unabhängig vom Charakter des Hilfesuchenden gewährt wird. Natürlich sollte der Hilfesuchende sich bemühen, die Regeln des Gastgebers einzuhalten, und natürlich hat der Gastgeber auch das Recht, den Hilfesuchenden auf sein Fehlverhalten hinzuweisen, wenn er die Regeln nicht einhält. Aber nur weil einige wenige sich nicht richtig verhalten, kann man doch nicht generell alle Hilfesuchenden abweisen.
Der Hebräerbrief ruft uns dazu auf, gastfreundlich zu sein, „denn viele haben bereits einen Engel beherbert, ohne es zu ahnen“. Dabei verspricht der Schreiber nicht, dass alle, die zu uns kommen, Engel sind. Dennoch mahnt er uns, die Gastfreundschaft nicht zu vergessen. „Im Zweifelsfall FÜR den Angeklagten“ sagt unser Strafgesetzbuch. Genau das meint der Hebräerbrief ebenfalls. Auch auf die Gefahr hin, einmal enttäuscht zu werden, sollten Christen dennoch jedem Fremden zunächst einen Vertrauensvorschuss gewähren. Alle Menschen sind Kinder Gottes – die Fremden genauso wie wir. Gott liebt uns alle gleichermaßen.
„Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ fordert auch Jesus in der Bergpredigt. Wie würde ich mich denn fühlen, wenn ich plötzlich aus meinem wohlgeordneten Leben vor einem Krieg flüchten müsste und völlig mittellos und ohne der Sprache mächtig zu sein, in der Ukraine oder einem anderen Land stranden würde? Wäre ich dann nicht auch dankbar, wenn man mir das Gefühl gäbe willkommen zu sein und auf Hilfe hoffen zu dürfen? Ich wünsche Ihnen, dass Sie immer auf gastfreundliche Menschen treffen, wenn Sie Hilfe benötigen. Bitte handeln Sie so wie auch sie behandelt werden möchten.
von Sonja Rexwinkel